Heribert Prantl

 

Liebe Frau Mackowiak,
liebe Geburtstagsgäste,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

Die beiden eben erwähnten Herren, Gauweiler und Uhl, die beiden waren wohl für die Rechtshilfe das, was man früher Stahlgewitter genannt hat. Ein anderer Satz sagt ja, dass steter Tropfen den Stein höhlt Ich glaube, er höhlt auch – wenn ich heute mit dem Mann rede – er höhlt auch den Gauweiler. Er hat schon einmal reaktionärer geredet als heute. Steter Tropfen höhlt, glaube ich auch, ein steinernes Recht, und das Ausländerrecht ist ein steinernes Recht. Und wenn es irgendwann weicher zu werden scheint, dann verwandelt es sich, wie wir es gerade mit dem Zuwanderungs- / Integrationsgesetz erleben, wieder zurück in ein steinernes. Ich denke, der Kampf – und in dem Fall ist das Wort, das ich sonst nicht gerne mag – berechtigt, der Kampf für ein aufgeklärtes Ausländerrecht ist ein Ewigkeitskampf. Und 25 Jahre sind eine kleine Ewigkeit.

Liebe Geburtstagsgäste, das erste Labyrinth der Weltgeschichte baute der Baumeister Dädalus auf Kreta für den wilden Stier Minotaurus. Eines der letzten bekannten Labyrinthe baute der bundesdeutsche Gesetzgeber. Er baute es für die Ausländer, die nach Deutschland kommen und in Deutschland leben wollen. Gemeinsam ist allen Labyrinthen, dass es aus ihrem Gewirr kaum ein Entrinnen gibt: Man verirrt sich, gerät in Sackgassen, kommt nicht weiter. Das deutsche Labyrinth besteht freilich nicht, wie das der griechischen Sage, aus Mauern und auch nicht, wie die Irrgärten des Barock, aus Hecken und Zäunen. Es besteht bekanntlich aus Paragraphen.
Das neue Zuwanderungs- und Integrationsgesetz, welches das heillos verwirrende Ausländergesetz aus dem Jahr 1990 abgelöst hat, sollte eigentlich kein solches Labyrinth mehr sein. Die Praxis zeigt: Das Labyrinth gibt es noch immer. Vielleicht hat es ein paar Irrwege, ein paar Sackgassen, ein paar zugemauerte Türen weniger; aber das Labyrinth ist ein Labyrinth geblieben.
Manche der neuen Paragraphen lesen sich so, als habe man in einem Irrgarten Verkehrszeichen und Wegweiser aufstellen wollen. Das genügt nicht. Christian Schwarz-Schilling von der CDU hatte vor sechs Jahren vom neuen Recht verlangt, das neue Gesetz müsse eine „freundliche Einwanderungsathmosphäre schaffen“. Sie wissen, was aus dieser Forderung geworden ist.

Das Bild vom deutschen Ausländerrecht als einem Labyrinth führt mich zu Ihrem Geburtstag. In der griechischen Sage gibt es die Ariadne und ihr Garnknäuel – und mit dieser Hilfe fand Theseus aus dem Labyrinth heraus. Im deutschen Rechtslabyrinth , im Labyrinth der Landeshauptstadt München sind Sie, die Rechtshilfe, das, was einst auf Kreta Ariadne war. Dieser Ariadnefaden ist jetzt 25 Jahre lang. Und Sie, die Rechtshilfe, haben nicht nur einen einzigen Theseus, Sie haben ganz viele Menschen durchs Labyrinth geführt. Das ist noch viel sagenhafter als die klassische Sage.
Der Ariadnefaden, mit dem Sie die Migranten durch den deutschen Rechtswirrwarr führen, ist jetzt 25 Jahre lang. In dieser Zeit, in diesen 25 Jahren, ist der „Leuchtturm“ unserer Verfassung, das Asylgrundrecht, abgerissen worden. In diesen 25 Jahren kam es zu furchtbaren ausländerfeindlichen Ausschreitungen. In diesen 25 Jahren haben wir ausländerpolitische Debatten erlebt, die zum Haareausraufen waren. In diesen 25 Jahren standen diejenigen, die eine humane Asyl- und Ausländerpolitik gefordert haben, fast immer mit dem Rücken zur Wand. In diesen 25 Jahren war es nicht selten so, dass der Gebrauch des Rechts als Missbrauch betrachtet wurde. In diesen 25 Jahren haben wir erlebt – seit dem 11. September 2001 vor allem – wie Ausländer, vor allem Muslime, unter Generalverdacht gestellt werden. In diesen 25 Jahren haben wir aber auch erlebt, dass Bürger und Bürgerinitiativen aufgestanden sind und sich gewehrt und etwas getan haben – die Rechtshilfe München ist ein besonders schönes Beispiel.
Da mag man doch die Seligpreisung der Bergpredigt noch um eine ergänzen: Selig sind die, die Rechtshilfe leisten!

Meine Damen und Herren, in der Zeit, als die Rechtshilfe München gegründet wurde, war Heinz Kühn, der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der erste deutsche Ausländerbeauftragte. Schon 1979 hatte dieser Heinz Kühn eine erleichterte Einbürgerung, das kommunale Ausländerwahlrecht und den Abbau rechtlicher Schranken gefordert – und die Bundesrepublik vor die Alternative gestellt: wolle sie die Eingliederung oder ein dauerhaftes Minderheitenproblem? Kühns Nachfolgerin Liselotte Funcke (FDP) trat 1991 aus Protest gegen die Ausländerpolitik der Regierung Kohl zurück.
Die Krux der gesamten deutschen Ausländerpolitik seitdem besteht darin, dass sie bis zum heutigen Tag nicht für die ausländischen Einwanderer gemacht wird, sondern für die Deutschen, für die deutschen Wählerinnen und Wähler. Sie waren, sie sind, weit mehr als in vielen anderen europäischen Ländern, Adressaten der sogenannten Ausländerpolitik, und deshalb ist Ausländerpolitik und Ausländerrecht in Deutschland die Geschichte des immer Gleichen: Die Geschichte des Ausländerrechts in Deutschland besteht in der Wiederkehr der immer gleichen Diskussionen, der gleichen Argumentationsmuster. Es ist so, als würde dasselbe Stück Ausländerpolitik in Deutschland immer wieder neu inszeniert.

Seit 120 Jahren gibt es Einwanderung in Deutschland – gleichwohl tun Politiker bis in unsere Tage hinein gerne so, als seien sie die ersten, die damit konfrontiert sind. Doch schon im Jahr 1880 haben die ostdeutschen Gutsbesitzer damit begonnen, Arbeitskräfte aus Polen anzuwerben und auf ihren Gütern zu beschäftigen. Die Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland beginnt also nicht erst in den späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sonder Jahrzehnte früher. Der Reichstag in Berlin, die U-Bahn in der Hauptstadt und das deutsche Eisenbahnnetz sind überwiegend von ausländischen Arbeitern gebaut worden. Damals warnten die sogenannten Altdeutschen, der polnischen Wanderarbeiter wegen, vor einer „Polnisierung“ Deutschlands – und die Tonlage dabei unterschied sich nur wenig von der heutigen Warnung vor der „Islamisierung“ Deutschlands. Mit dem Schlagwort „Deutschland den Deutschen“ wurde im späten Kaiserreich Kraftmeierei betrieben und die Ruhrpolen, die preußischen Staatsbürger geworden waren, flüchteten vor den Diskriminierungen in die Subkultur des Milieus.
All das kommt einem irgendwie bekannt vor. Aber es gibt keine Erinnerung daran, und es gibt auch keine Erinnerung an die Gesetzgebung und Verwaltungs-Praxis von damals.

Der Gesetzgeber auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist ein Gesetzgeber ohne Gedächtnis. In anderen Gebieten ist es so, dass sich das Recht fortentwickelt, dass es aufbaut auf dem, was war, das es sich wandelt, dass es korrigiert wird, dass es lernt, dass der Gesetzgeber also das Recht verbessert und das Parlament legislativ auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Es gab daher in den vergangenen hundert Jahren große Fortschritte im Strafrecht und gewaltige Fortschritte im Bürgerlichen Recht, zumal im Ehe- und Familienrecht. Im Ausländerrecht gab es diese Fortschritte kaum – das Zuwanderungsgesetz war der erste ganz ganz kleine Schritt. Politik und Gesetzgeber stehen vor der Einwanderung und ihren Problemen immer wieder von neuem wie der Ochs vor dem Berg. Wenn aber Politik kein Gedächtnis hat, dann handelt sie hirnlos.
Die deutsche Ausländerpolitik ist unzureichend adressiert, sagte ich vorher. Sie wird nicht für die ausländischen Einwanderer gemacht, sondern nur für die Deutschen, für die deutschen Wählerinnen und Wähler und im Umschlag mit dieser Adresse steckt auch noch die falsche Politik, eine falsche Politik, in der sich alles um innere Sicherheit dreht, eine Politik, die den Einwanderer fast ausschließlich als Störer begreift, eine Politik, die Furcht vor Multikulti fördert, statt sich über den Mehrwert zu freuen und ihn zu nutzen.

Einwanderung hat Deutschland geprägt und verändert. Die meisten Deutschen machen es sich gar nicht bewusst, wie sehr. Wir reden fast ausschließlich über die Probleme der Einwanderung. Die Reichtümer und Schätze, die unser Land dabei gewonnen hat – ich meine weniger Monetäres denn Kulturelles – machen sich viele gar nicht bewusst. Ein Teil dieses Neuen wird buchstäblich konsumiert, vulgo: verfressen.
Multikultur schmeckt, schmeckt allen, so lange man sie essen kann. Wäre der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein Gradmesser für die Integration der Ausländer in Deutschland, es könnte kaum bessere Werte geben. Doch Integration ist nicht die Addition aller Dönerbuden in den deutschen Fußgängerzonen – auch Rassisten essen Döner.

Liebe Geburtstagsgäste, als ich Jura studiert habe und wir in den strafrechtlichen Seminaren die Probleme diskutiert haben, die sich beim § 242 ff. des Strafgesetzbuches beim Eigentumsschutz ergeben, da sagte mein Professor über den Dieb, der Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt, den schönen Satz: „Die Insichnahme ist die intensivste Form der Ansichnahme.“ Würde dieser Satz von der Insichnahme, die die intensivste Ansichnahme ist, auch für die Einwanderungsgesellschaft gelten, dann wären wir schon erheblich weiter.

Seit fast 2 ½ Jahren ist das Zuwanderungsgesetz in Kraft. Es wiederspiegelt den furchtsamen Aufbruch der deutschen Politik in die neuen Zeiten. Sicher ist es gut, dass wir dieses Gesetz endlich haben. Gleichwohl: Ich, und wahrscheinlich Sie alle, hätten sich wohl erheblich mehr erhofft. Dieses Gesetz, so war es eigentlich angekündigt – und so sah es auch ursprünglich aus, als es unter der Ägide von Rita Süßmuth entwickelt wurde – dieses Gesetz sollte einen großen Teppich weben, auf dem Integration stattfinden kann. Nun ist aus dem Teppich ein Topflappen geworden – und auch der wird jetzt noch durchlöchert und zerfetzt. Aber: Was hülfe uns das schönste Gesetz, was hülfe uns der größte und schönste Teppich, wenn die Gesellschaft nicht bereit ist, in auszurollen? Diese Bereitschaft kann man nicht legislativ verordnen. Sie muss wachsen. Sie müsste viel schneller wachsen. Seit Jahrzehnten leben nun die Türken in Deutschland. Gleichwohl könnte man den Eindruck haben, die Entdeckung der Türken sei eine Angelegenheit erst des vergangenen Jahres.

Damals, als in Frankreich die Vororte der Großstädte brannten, wurde in Deutschland allenthalben die bange Frage laut, ob nicht auch in Berlin-Kreuzberg oder Gelsenkirchen ein Ausbruch der Gewalt bevorstehen könnte. Wer sieht, wie es vielen Migrantenkindern in Deutschland ergeht, der muss sich wundern, dass es noch keinen Aufstand gibt. In manchen Regionen, vor allem in Großstädten, verlässt jedes vierte türkische Kind die Schule ohne Abschluss. Bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz gehen die meisten leer aus. Die Bildungschancen der Ausländerkinder sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland minimal. Schauen Sie in die PISA-Studie: Dort entdecken Sie die neue soziale Frage. Die Antwort darauf, eine der Antworten: Die Schule wird wieder ein Ort der Schicksalskorrektur sein müssen.
Die Kids der Einwanderungsgeneration haben Kompetenzen, die in der Schule nicht oder gar nicht honoriert werden: Kinder, die keinen Satz ordentlich schreiben und keine zwei Absätze ordentlich vorlesen können, schreiben blind unter der Bank SMS.
Die Zwölfjährige spricht akzentfrei Deutsch und kann ebenso gut Italienisch und Türkisch, weil ihre Eltern aus diesen Ländern kommen; nur ordentlich aufschreiben kann sie das nicht, was sie sagt. Aber sie wäscht ihre Wäsche selbst, weil die sich bei ihrer Mutter immer verfärbt. Andere Kinder bringen ihre Geschwister morgens in den Kindergarten, müssen auch selbst dafür sorgen, dass sie ihre Schulsachen dabei haben – Dinge, auf die in Mittelstandsfamilien die Eltern achten. Perspektiven bietet diesen bemerkenswert selbständigen Kindern die Hauptschule bisher nicht; sie ist ein Stigma. Ich sage es noch einmal: die Schule muss wieder ein Ort der Schicksalskorrektur werden. Das ist eines der Kernthemen von Integration.

In den Zeiten der Verunsicherung wird gern über eine Leitkultur geredet. Vielleicht hat die Gesellschaft in diesen leidvollen Leitkulturdebatten mittlerweile gelernt, dass diese Leitkultur nichts zu tun hat mit Abendland, Heimatabend und Sauerkraut, dass sie nichts zu tun hat mit Brauchtum und Gipfelkreuzen, nichts mit Überlegenheitsgefühlen oder mit Deutschtümeleien. Diese Leitkultur, unsere Leitkultur, ist eine Kultur des Zusammenlebens: Sie heißt Demokratie, sie heißt Rechtsstaat, sie heißt Grundrechte. Das klingt simpel. Aber der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese Leitkultur fordert viel. Sie fordert Toleranz von beiden Seiten, von den Alt- und den Neubürgern – und führt dann zur Integration. Integration ist ein forderndes Wort. Toleranz bedeutet mitnichten, dass jeder machen kann, was er will. Toleranz heißt nicht Beliebigkeit, und nicht, dass man für alles Verständnis haben soll. Toleranz ist auch kein plakativer Akt, sonder ein Lernprozess. Toleranz ist nichts Schrankenloses. Sie kann nur innerhalb klar definierter Grenzen existieren. Wenn diese Grenzen nicht gesetzt und nicht bewacht werden, kann aus Wohltat Plage werden. Innerhalb dieser Grenzen gibt es,natürlich Multikulti – und wer sagt, dass Multikulturalität, Demokratie und Rechtsstaat sich nicht miteinander vertrügen, der ist töricht und verzichtet auf eine neue Quelle des Reichtums dieser Gesellschaft. Toleranz nimmt niemandem seine Religion, sein Kopftuch, seine Lebensgewohnheiten weg. Toleranz setzt aber voraus, dass die heiligen Bücher, wie immer sie heißen, ob Bibel oder Koran, nicht über oder gegen die Leitkultur gestellt werden. Integration fordert also von den Christen und von den Muslimen Toleranz – und eine Distanzierung von der Religion als einem zwingend vorgeschriebenem Rechtssystem. Integration ist ein forderndes Wort.

Liebe Geburtstagsgäste, in Deutschland ist die Zahl der Asylbewerber so niedrig wie nie seit der Gründung der Rechtshilfe München. Rapide gestiegen ist allerdings die Zahl der Abschiebungen. Das ist ein Erfolg der Verschärfung des Asylrechts in ganz Europa. Zu den Erfolgen der Verschärfung gehört auch, dass sich die Politik über Fluchtursachen keine Gedanken mehr macht. Seitdem die Asylbewerberzahlen infolge der Abschottung sinken, gilt der Satz: „Aus den Augen aus dem Sinn“. Soeben haben sich die Innenminister der Europäischen Union wieder darüber beraten, wie man die sogenannte illegale Migration noch besser bekämpfen könnte. Deutschland wird also dieser Vereinbarung nach 100 neue Grenzschützer zu FRONTEX, zur Flüchtlingsabwehr-Polizei, schicken. Die Presseerklärungen dazu aus Brüssel klingen beinahe zynisch. Noch mehr Abwehr, noch effektivere Methoden, noch bessere Abschottung, noch weniger Schutz für Flüchtlinge.
Vor ein paar Jahren wurde man noch der maßlosen Übertreibung bezichtigt, wenn man vorm Aufbau einer Festung Europa warnte. Heute kann man die Festung Europa allenthalben besichtigen.

Geldentwertung, meine Damen und Herren, wird in Europa mit Argusaugen beobachtet. Rechtsentwertung nicht. Über eine Nichteinhaltung der Maastricht-Kriterien herrscht europaweit Empörung. Über den Bruch der EU Grundrechte-Charta, über den Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention nicht. Der italienische Innenminister ließ vor drei Jahren Flüchtlinge zu Hunderten in Handschellen nach Libyen verfrachten, kaum dass sie in Italien gelandet waren, ohne Prüfung, ohne irgendein rechtliches Verfahren, ohne den Versuch der Identitätsfeststellung, ohne zu wissen, welcher Nationalität sie sind. Nur eines war ziemlich sicher: Dass diese Flüchtlinge nicht aus Libyen stammen. Libyen hat die Genfer Konvention nicht unterzeichnet, Libyen verfügt über keine Aufnahmestrukturen, Libyen verschiebt die Flüchtlinge weiter – nach Khartoum im Sudan ober nach Eritrea.
Erst sind diese Menschen Opfer von Schleppern, die ihnen das Geld abnehmen, dann Opfer eines Rechtsstaates, der ihnen kein Recht gewährt – und schließlich eines nordafrikanischen Staates, der die Drecksarbeit erledigt. Und was tat der deutsche Bundesinnenminister? Empörte er sich? Forderte er Sanktionen gegen Italien, wie man sie vor Jahren gegen Haider-Österreich praktiziert hat? Ermahnte er seinen Kollegen, sich rechtstreu zu verhalten? Mitnichten. Er tat sich mit seinem italienischen Kollegen zusammen, um ein Flüchtlingsabwehr-Projekt in Nordafrika zu betreiben – in Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Ägypten. Die Nordafrikaner sollen sich, irgendwie, um die Flüchtlinge kümmern. Wie? Da wird man dann nicht so genau hinschauen. Man spielt Pontius Pilatus und wäscht die Hände in Unschuld.
Pontius-Pilatus-Politik: Das ist noch das Beste, was man über die deutsche und europäische Asylpolitik sagen kann.

Ich erinnere mich daran, wie vor bald 12 Jahren vor dem Bundesverfassungsgericht über das Asylgrundrecht, über dessen Abschaffung, über den Artikel 16 Absatz 2 GG, verhandelt wurde. Damals, im November 1995, als der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) das neue Asylrecht vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigte, schwärmte er regelrecht von einem künftigen EU-Flüchtlingskonzept, von einem großen europäischen Verantwortungszusammenhang, dessen schützende Wirkung sich erst noch entfalten müsse. So versuchte er, die offensichtlichen Rechtsschutzlücken im neuen deutschen Asylrecht zu rechtfertigen. Er tat so, als seien die Lücken das Opfer, welches Deutschland für den künftigen gesamteuropäischen Flüchtlingsschutz darbringen müsse. Ein vorübergehendes Rechtsschutzdefizit müsse in Kauf genommen werden. Kanther bat die Bundesverfassungsrichter, den Entfaltungsprozess des Asylrechts nicht zu stören. Die Richter gingen Kanther auf den Leim. So leisteten sie, wie sich jetzt zeigt, dem Prozess der Entfaltung europäischer Unverantwortlichkeit Vorschub.
Das Institut für Asyl soll ausgelagert werden. Die EU zahlt dafür, dass das Asyl dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt. Asyl in Europa soll zur Fata Morgana werden – schön, aber unerreichbar. Schutz gibt es nicht mehr in Deutschland, in Italien, nicht mehr in der Europäischen Union, sondern allenfalls weit weg. Weit weg von der Kontrolle durch Justiz und Öffentlichkeit. Und wenn der Schutz dann kein Schutz ist, sondern Auslieferung an das Land, aus dem der Flüchtling geflohen ist – dann kräht kein Hahn danach. Aus den Augen aus dem Sinn, das ist der neue Asylartikel.

Der Schriftsteller Joseph Roth, der auf der Flucht vor Hitler im Wahnsinn endete, hat über die untergegangene Donau-Monarchie gesagt: „Ich habe es geliebt, dieses Land, das mir gleichzeitig erlaubte, Patriot und Weltbürger zu sein.“ Diese Idee von einem Land, in dem man Patriot und Weltbürger zugleich sein kann, sollte eigentlich in der Europäischen Union wieder auferstanden. Nach Wahlkämpfen, wie sie in Europa in den vergangenen Jahren immer wieder geführt worden sind, ist allerdings daran zu erinnern, dass in der Europäischen Union Gefahren nicht nur von Schweinen, Rindern und Schafen drohen. Es gibt nicht nur Tierseuchen, es gibt auch politische Seuchen – es gibt die Neonationalismen, die eine Zukunft in Vielfalt gefährden.
Der eben zitierte Joseph Roth hat vor siebzig Jahren geklagt und gewarnt: „Die Völker suchen vergeblich nach den sogenannten Nationaltugenden. Meine alte Heimat war ein großes Haus mit vielen Türen; mit vielen Türen und Zimmern, für viele Arten von Menschen. Und dieses mein Haus ist zerteilt, gespalten und zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, und nicht in Kabinen.“

Dieser Satz sollte eine Lehre sein in einer Zeit, in der so gern vom „Haus Europa“ geredet wird und eine neue Hausordnung, genannt Verfassung, geschrieben wird.
In der heutigen Ausgabe meiner Zeitung habe ich darüber geschrieben, dass die Ausländer- und Asylpolitik der vergangenen Jahrzehnte ein Menetekel dafür war, was jetzt mit der Politik der inneren Sicherheit passiert. Die Militarisierung der rechtspolitischen Sprache, die das gesamte Polizei- und Strafrecht ergriffen hat – bedenken Sie, dass kaum noch andere Wörter als Kampf gegen Kriminalität, Kampf gegen Terrorismus, Krieg gegen den Terrorismus benutzt werden – diese Militarisierung der rechtspolitischen Sprache ist in der Ausländer- und vor allem Asylpolitik vorweggenommen. Die Beschränkung der Individualrechte, die Vereitelung des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes, sie wurde im Asylrecht vorexerziert: Der Rechtsschutz im Asylrecht ist kaum noch existent; und im Ausländerrecht gelten Ausländer grundsätzlich als verdächtig. Die Unschuldsvermutung ist hier längst abgeschafft. Ausländer werden wegen Straftaten abgeschoben, ohne dass sie wegen dieser Taten verurteilt worden sind. Die „Sicherheit der Bundesrepublik“ genügt zur Rechtfertigung einschneidendster Maßnahmen. „Alle sind verdächtig“. Dieser Satz wird jetzt auch zum Kernsatz deutscher Sicherheitspolitik. Alle sind verdächtig, potentiell jedenfalls, alle werden überwacht: Computerüberwachung, Handyüberwachung, Telefonüberwachung, Wohnungsüberwachung, Videoüberwachung, Kontenüberwachung usw, usw.

Das Bild vom potentiell gefährlichen Individuum – jeder ist potentiell gefährlich – das den neuen deutschen Sicherheits- und Präventionsstaat kennzeichnet, dieses Bild wurde im Ausländer- und Asylrecht konturiert – im allgemeinen Polizei- und Sicherheitsrecht wird es nun koloriert und multipliziert. Immerhin ist damit dem Gleicheitsgrundsatz Genüge getan. Im neuen deutschen Präventions- und Sicherheitsstaat sind alle Menschen Ausländer.

Deshalb – und das ist nicht nur ein Geburtstagsglückwunsch, sondern eine Prophezeiung – deshalb werden wir alle, auch wir Altbürger, von Ihrer Rechtshilfe für Ausländerinnen und Ausländer, noch sehr profitieren.

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